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Zwei Heidegger ist keiner zu viel

Über Entscheidungen, Geschichte und Kritik

Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen“ (BAUDELAIRE; BENJAMIN 1923: XV).Heideggers Werk „Sein und Zeit“ wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. In vielen dieser Sprachen wurden Neuübersetzungen angefertigt. Das Japanische besitzt sechs Versionen des deutschen Textes. Die letzte Version erschien im April 2013. Im Englischen gibt es zwei Versionen, während die letzte später überarbeitet neu erschien. Im Französischen genau wie im Rumänischen gibt es zwei Übersetzungen. All diese Übersetzer und Übersetzungen bergen das Potenzial einer Klärung und Erweiterung des Originals. Sie spiegeln es mit verschiedensten Mitteln und aus unterschiedlichsten Winkeln und werfen das Gewonnene auf das Original zurück. Jedenfalls ist dies die Funktion, die Übersetzungen im allgemeinen Diskurs zugeschrieben wird. Es ist das prototypische Ideal einer Übersetzung und daher sicher auch häufig der tatsächliche oder nach außen vertretene Anspruch von Übersetzern an ihre eigene Arbeit. Eine tiefgründige, systematische Geschichte der Übersetzung in Verbindung mit einer Geschichte translationswissenschaftlicher Überlegungen würde sehr wahrscheinlich eine große Bandbreite an unterschiedlichsten Interessen, Funktionen und Entscheidungsmotivationen im Übersetzungsprozess herausarbeiten können, die nicht diesem originalbezogenen Ideal entsprechen, ihm an mancher Stelle auch entgegenlaufen. Diese Interessen und Entscheidungen werden aber häufig verdeckt, weil sie nicht dem Diskurs oder dem Habitus des Übersetzers entsprechen. Und meist werden sie auch nicht hinterfragt. Gabriel Liiceanu stellt im Vorwort der rumänischen Übersetzung zu Sein und Zeit an seine und Cătălin Cioabăs Übersetzung den Anspruch, so zu übersetzen, als ob der Autor auf Rumänisch geschrieben habe. In Anbetracht der engen bindung Heideggers Denkens zur Sprache und der tatsächlichen Umsetzung (um nur ein absolut winziges, aber repräsentatives Beispiel zu nennen: „Sosein“ wird zu „faptul-că-ceva-este-în-cutare-fel“), erwacht das Interesse des Übersetzungskritikers. Meist aber perpetuiert sich die Vorstellung vom Übersetzen ungestört trotz ihr widersprechender übersetzerischer Realitäten. Übersetzungskritik, Übersetzungsgeschichte und Geschichte der Translationswissenschaft sind hier gefordert, Methoden und Fragestellungen zu entwickeln.

Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung.

Deren Wirklichkeit wird geschätzt nach ihrem Nutzen. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle

seines Wesens entfalten, in diese hervorgeleiten, producere. Vollbringbar ist deshalb eigentlich nur das, was schon ist. Was jedoch vor allem «ist», ist das Sein. Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen. Es macht und bewirkt diesen Bezug nicht. Das Denken bringt ihn nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben ist, dem Sein dar. Dieses Darbieten besteht darin, daß im Denken das Sein zur Sprache kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren (HEIDEGGER 1947: 5).

Die „Denkenden und Dichtenden“ bestimmen den Diskurs. Zu ihnen zählen auch die Übersetzer, die Verleger und diejenigen, die die übersetzten Texte in den Zielkulturen weitertragen, zitieren, rezensieren. Obwohl es auf den ersten Blick in Rumänien viele Heideggerübersetzer gibt, verbindet man vor allem den Namen Gabriel Liiceanu mit der rumänischen Variante des deutschen Philosophen. Das hat mehrere Gründe. Liiceanu übersetzte zum einen das wichtigste Werk Heideggers: Sein und Zeit. Aber er war nicht der erste, und er war bei seiner Übersetzung nicht allein. Die erste vollständige Übersetzung des Buches – in Teilen war es bereits 1994 bei Jurnalul Literar [Literarisches Tagebuch] herausgegeben worden (HEIDEGGER; TILINCA 1994) – erschien 2001 (HEIDEGGER; TILINCA 2001) ebenfalls in der Übersetzung von Dorin Tilinca und versehen mit einem Vorwort von Mircea Aman beim Verlag Grinta in Cluj unter dem Titel Fiire și timp.

Sich einer «Sache» oder einer «Person» in ihrem Wesen annehmen, das heißt: sie lieben: sie mögen. Dieses Mögen bedeutet, ursprünglicher gedacht: das Wesen schenken. Solches Mögen ist das eigentliche Wesen des Vermögens, das nicht nur dieses oder jenes leisten, sondern etwas in seiner Her-kunft «wesen», das heißt sein lassen kann. Das Vermögen des Mögens ist es, «kraft» dessen etwas eigentlich zu sein vermag (HEIDEGGER 1947: 7).

Wenn Übersetzen in diesem Sinne des Annehmens verstanden wird, dann bedeutet es „Wesen schenken“ – also im Grunde interpretieren. Es gibt für die rumänische Sprache also insgesamt drei, die sich der Übersetzung Heideggers Sein & Zeit „angenommen“ haben: Tilincas Übersetzung erscheint zwei Jahre vor der von Liiceanu & Cioabă. Dennoch beschäftigt sich Tilinca bereits intensiv mit Liiceanus Versionen und ahnt anhand der Vehemenz, mit der seine zuvor erschienen Übersetzungen von diesem verdeckt kritisiert werden, dass Liiceanu selbst eine Übersetzung vorbereitet (vgl. HEIDEGGER; TILINCA 2001: 554). Seine „Postfața versiunii românești“ [Nachwort zur rumänischen Ausgabe] enthält Erklärungen für Übersetzungsentscheidungen und ist eine Übersetzungskritik des 1982 in der Übersetzung von Liiceanu und Kleininger erschienen Originea Operei de Artă, einer Aufsatzsammlung, die unter anderem auch den „Ursprung des Kunstwerkes“ enthält, das dem Band seinen Titel gab, aber auch den „Brief über den Humanismus“. Tilinca vertritt eine nahezu benjaminsche Auffassung zum Thema Neuübersetzung:

Es ist im Übrigen meine Überzeugung, dass in einer Sprache Platz ist für mehrere Versionen, dass jede Übersetzungsversion eine Bereicherung der Zielkultur ist, dass die Gesamtheit der Versionen in einer Sprache wahrscheinlich eine bessere Annäherung an Heideggers Denken bietet und in jedem Fall den erneuten Versuch der Annäherung an die Originalbedeutung darstellt – eine Bedeutung die keine Formulierung vollkommen wiederherstellen kann – ganz gleich wie viel Resonanz der Name hat, der sie autorisiert (HEIDEGGER; TILINCA 2001: 554; übers. JR).

Er betont explizit den Nutzen, sich über die Übersetzungen auszutauschen. Die Antwort auf den Wunsch nach Austausch könnte zwei Jahre, nachdem Tilinca diesen Text veröffentlicht, nicht deutlicher ausfallen. Sie ist auf der allerersten Seite der Übersetzung von Liiceanu & Cioabă zu lesen:

Diese erste Übersetzung von Sein und Zeit in die rumänische Sprache ist WALTER BIEMEL gewidmet“ (HEIDEGGER; LIICEANU & CIOABĂ 2003: VI, übers. und Hervorh. JR). Tilincas Übersetzung wird an keiner Stelle explizit genannt. Dennoch könnte es sein, dass Tilincas Übersetzungskritik nicht an Liiceanu & Cioabă vorübergegangen ist. Tilinca kritisierte unter anderem:

Als Germanist fand Th. Kleininger (den wir für den wahren ‚Motor‘ dieser Übersetzung halten) eine ‚korrekte‘ Entsprechung für Umwelt mit lume inconjurătoare [umgebende Welt], so wie der übliche Gebrauch in der deutschen Sprache ist. Aber demjenigen, der über die Richtigkeit der Entsprechungen der philosophischen Konzepte wachen sollte, sind ein paar Bedeutungsnuancen „entgangen“, die Heidegger verfolgt, wenn er Wörter neu vermisst, um funktionierende Operatoren für seine Konzepte zu erhalten (HEIDEGGER, TILINCA 2001: 563).

Tilinca plädiert im Folgenden für eine Übersetzung von „Umwelt“ durch „lume ambiantă“, was er naheliegenderweise auch selbst in seiner Übersetzung verwendet. Beispielsweise an dieser Stelle:

Lumea imediată a Dasein-ului este lumea ambiantă. […] Expresia Umwelt, sau lume ambiantă implică odată cu particula «Um» o referire la spațialitate. Acel «Umherum» ce poate fi echivalat cu «preajma» și care este un caracter constitutiv al lumii ambiante, nu are, totuși, în mod primar un sens «spațial» (HEIDEGGER; TILINCA 2001: 87). Liiceanu und Kleininger wechseln in ihrer Übersetzung ebenfalls zu „lume ambiantă“ für „Umwelt“. Lumea nemijlocită a Dasein-ului cotidian este lumea ambiantă. […] Sintagma „lume ambiantă“ conține, în „ambiant“, o trimitere la spațialitate. Înconjurătorul“, care pentru lumea ambiantă este constitutiv, nu are totuși un sens primordial „spațial“ (HEIDEGGER; LIICEANU & CIOABĂ 2003: 90). Die nächste Welt des alltäglichen Daseins ist die Umwelt. […] Der Ausdruck Umwelt enthält in dem »Um« einen Hinweis auf Räumlichkeit. Das »Umherum«, das für die Umwelt konstitutiv ist, hat jedoch keinen primär »räumlichen« Sinn (HEIDEGGER 1927: 66).

Ein weiteres Beispiel beschreibt bezeichnend den „Dialog“ der rumänischen Heideggerübersetzer. Tilinca verwendet für den heideggerschen Begriff „Inder-Welt-sein“ die Übersetzung „fiire-întru-lume“. Das Wort întru leiht er sich ausgerechnet bei Liiceanus Lehrer Noica, der um dieses Wörtchen eine ganze Philosophie geschaffen hat:

Es ist ein Glücksfall, dass die rumänische Sprache das Wort întru besitzt, die Partikel, deren Bedeutungen C. Noica bewunderswert offenlegte, ist ein Operator den Heidegger dachte, ohne dass das Deutsche ihn als solchen kennt. Aus diesem Grund erscheint es umso unerklärlicher, In-der- Welt-sein mit ființă în lume [Wesen in der Welt] zu übersetzen [wie es Liiceanu & Kleininger 1983 taten, Anm. JR]. […] Was könnte dem Denken Heideggers fernerliegen als das, was jemand, der der rumänischen Sprache mächtig ist, unter ființă în lume (armes Wesen in dieser großen Welt!) versteht (HEIDEGGER; LIICEANU 2001: 567, übers. JR).

Noica baut auf întru, das laut Liiceanu & Kleininger weder durch das deutsche zu“ noch durch das englische „into“ übersetzt werden kann (LIICEANU & KLEININGER 2001: 40), ein ganzes ontologisches Traktat auf: Devenirea întru fiinţă [Werden zum Sein], das 1981 publiziert wird, aber laut Liiceanu bereits 1950 entsteht (LIICEANU & KLEININGER 2001: 39). Liiceanu übersetzt nun, zwanzig Jahre später, auch nicht mehr „ființă în lume“ sondern „faptul-de-a-fi-în-lume“ Însă aceste determinări ale ființei Dasein-ului trebuie acum văzute și înțelese a priori pe baza constituției de ființă pe care o numim faptul-dea- fi-în-lume (HEIDEGGER; LIICEANU & CIOABĂ 2003: 71). Aceste determinări de fiire a Dasein-ului trebuie însă privite și întelese a priori pe baza acelei constituții de fiire pe care noi o desemnăm ca faptde- a-fi-întru-lume (HEIDEGGER; TILINCA 2001: 72).

Diese Seinsbestimmungen des Daseins müssen nun aber a priori auf dem Grunde der Seinsverfassung gesehen und verstanden werden, die wir das In-der-Welt-sein nennen (HEIDEGGER 1927: 53).

Symptomatisch erscheint auch der Umgang mit den zentralsten aller Begriffe des heideggerschen Werkes: „das Sein” und „Seiendes”. Vergleicht man die ersten Übersetzungen, die Liiceanu 1982 bei Univers veröffentlichte, so stellt man fest, dass der Begriff mit „Ființa” übersetzt ist. Großgeschrieben, was es im Rumänischen deutlich abhebt vom Rest der Terminologie. So bleibt es auch in der zweiten Ausgabe des Bandes Originea Operei de Artă, die 1995 bei Humanitas erscheint. In der 2003 erschienenen Übersetzung bleibt das Wort gleich, nur dass es nun gemäß der rumänischen Rechtschreibung kleingeschrieben wird – bei der Kleinschreibung bleibt es auch 2011 bei der (3). Ausgabe der übersetzten Textsammlung von 1982. In allen Übersetzungen sind Anmerkungen des Übersetzers zu verschiedenen Begriffen zu finden. Diese nutzen Liiceanu und seine Mitübersetzer unter anderem dazu, Übersetzungsentscheidungen transparent zu machen. Vergleicht man die Einträge zum Begriff „das Sein“, der, obwohl es sich um die Übersetzungen verschiedener Texte handelt, in beiden eine zentrale Rolle einnimmt, so stellt man fest, dass die Erklärungen von 1982 in weiten Teilen 2003 wortwörtlich übernommen wurden. Beide Male beginnt die Argumentation damit, dass „Sein“ und „Seiendes“ im Rumänischen rein grammatikalisch mit „firea“ und „fiindul“ wiedergegeben werden müsste, dann kommt die Erklärung, warum dies nicht möglich sei und man sich dagegen entscheiden musste. Bei dieser Begründung hielten die Übersetzer doch eine Veränderungdes Textes von 1982 für nötig.

1982:

Firea‘ hat im Rumänischen aber vor allem poetische Konnotationen undkann den bereits mit Konzepten besetzten Begriff nicht ersetzen (HEIDEGGER; LIICEANU & KLEININGER 1982: 369). (5)

……………………………………..

(5) Diese Erklärung bleibt bei den beiden späteren Ausgaben (1995 und 2011 bei Humanitas) wörtlich

unverändert.

2003:

Leider kann keine der beiden Varianten von einem rumänischen Übersetzer von Sein und Zeit in Betracht gezogen werden. ‚Firea‘ ist so stark Teil des poetischen Vokabulars und verweist so sehr auf die Natur in ihrer Gesamtheit (‚toată firea îl jelea‘) oder das Wesen einer Person (‚nu-i stă în fire‘, ‚și-a ieșit din fire‘), dass der Begriff nicht mehr vom philosophischen Wortschatz aufgegriffen werden kann, um die vollständige Neutralität von ‚faptul de a fi‘ [Tatsache, zu sein] auszudrücken (HEIDEGGER; LIICEANU & CIOABĂ 2003: 586).

In der Zwischenzeit hatte allerdings Tilinca die Entscheidung getroffen, sich vom Begriff „Ființa“, den er in der Ausgabe von 1995 noch verwendet hatte, zu verabschieden und einen neuen Begriff zu kreieren. Eine Substantivierung des Verbes „a fi“ – „fiire“, eine Neuschöpfung. Tilinca erklärt, wie „ființa“ sich im rumänischen philosophischen Wortschatz etabliert hat (nämlich aus seiner Sicht mit der Übersetzung der Klassiker und mit Lucian Blaga & Constantin Noica, warum es aus seiner Sicht keine gute Wahl sei – weil statisch, obwohl von Heidegger prozesshaft gedacht. So als habe man im Deutschen nur Gang“, um „das Gehen“ zu benennen. Tilinca schlägt also einen Bruch in der philosophischen Terminologie und einen Bruch mit der rumänischen Grammatik vor. Sozusagen eine kleine Revolution. Die aber ohne Diskussion und Erwähnung am bestehenden Diskurs abprallt. Denn auch wenn Liiceanu in der Kopie des alten Textes die Passage ausbaut, in der er sich gegen „fire“ ausspricht, bleibt eine Auseinandersetzung mit dem neuen „fiire“ aus. Tilinca entscheidet sich gegen das althergebrachte „ființa“ für „Sein“ aber für die liiceanusche Version für „das Seiende“, nämlich „ființarea”. Er begründet seine Entscheidung, illustriert den Nutzen der Diskussion zwischen den Übersetzern und beschreibt die gegenseitige Einflussnahme:

Auch wenn ființarea grammatikalisch nicht die korrekte Übersetzung für Seiendes ist, decken sich die beiden semantisch vollkommen, denn die fiinduri [Seienden], die wir wahrnehmen, sind ființari. A ființa = in Zeit und Raum etwas Bestimmtes sein, faktisch hier sein. Es ist Th. Kleiningers und G. Liiceanus Verdienst, diesen Begriff in Umlauf gebracht zu haben, den auch wir übernehmen […] (HEIDEGGER; TILINCA 2001: 561).

Gestritten wird im Halbdialog der rumänischen Heideggerübersetzer auch darüber, ob die rumänische Version von „Sein“ einen großen oder kleinen Anfangsbuchstaben haben soll:

Es muss ebenso die Schreibung ‚Ființa’ für Sein vermieden werden, denn die Großschreibung, die im Deutschen eine orthographische Regel ist, führt, wenn man sie ins Deutsche überträgt, zur oben erwähnten Fehlinterpretation (zu einer Personifizierung des Wortes), die den Zugang zu Heideggers Denken vollkommen blockieren könnte. Für Heideggers Denken in der Zeit von Sein und Zeit ist die Übersetzung mit Großschreibung (‚Ființă‘) also vollkommen inadäquat (HEIDEGGER; LIICEANU & CIOABĂ 2003: 587).

Tilinca kannte den Vorwurf aber schon, denn er zitiert ihn 2001 wörtlich. Leider ohne anzugeben, wo er so erschienen ist. Und er fühlt sich angegriffen:

Der zweite Vorwurf [Großschreibung von „ființă”, Anm. JR] ist offensichtlich ein wettbewerbstaktischer Schnellschuss, der unsere Bemühungen kleinmachen soll und dabei die Komplexität der Frage nicht reflektiert. […] Die Großschreibung hatte gerade die Aufgabe, diesen Unterschied herzustellen, um dem Begriff die gewollte ontologische Bedeutung zu verleihen (HEIDEGGER; TILINCA 2001: 558).

Anscheinend konnten sich die beiden Übersetzer aber gegenseitig überzeugen und einen „Konsens“ finden. Beide schrieben den Begriff, den sie sich als Übersetzung für „das Sein“ ausgesucht hatten in ihren frühen Übersetzungen 1982 bzw. 1995 mit einem Großbuchstaben. 2001 und 2003 jedoch ist sowohl Liiceanus „ființa” als auch Tilincas „fiire“ klein geschrieben. Es wäre eine wesentlich tiefgründigere Übersetzungskritik verbunden mit einer Analyse der Vor- und Nachworte der Übersetzer notwendig, um sich einen wirklichen Eindruck von diesem „Dialog“ zu machen, den sich die beiden liefern, und der ganz offensichtliche Spuren in beiden Übersetzungen hinterließ.

Wenn anders es aber eine Sprache der Wahrheit gibt, in welcher die letzten Geheimnisse, um die alles Denken sich müht, spannungslos und selbst schweigend aufbewahrt sind, so ist diese Sprache der Wahrheit – die wahre Sprache. Und eben diese, in deren Ahnung und Beschreibung die einzige Vollkommenheit liegt, welche der Philosoph sich erhoffen kann, sie ist intensiv in den Übersetzungen verborgen (BAUDELAIRE; BENJAMIN 1923 XIII).

Es liegt in den Übersetzungen nicht nur eine Perspektivenvielfalt auf das Original sondern, es liegt in ihnen selbst – und damit in einer kapablen Übersetzungskritik das Material für Übersetzungsgeschichte.

Literaturverzeichnis

BAUDELAIRE, Charles & BENJAMIN, Walter (1923): Tableaux parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers. – Heidelberg: Verlag von Richard Weissbach.

HEIDEGGER, Martin (1927): Sein und Zeit. – Tübingen: Niemeyer.

HEIDEGGER, Martin (1947): Brief über den Humanismus. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.

HEIDEGGER, Martin; KLEININGER Thomas & LIICEANU, Gabriel (1982): Originea operei de artă. – Bukarest: Univers. (weitere Auflagen: 1995 und 2011, Bukarest: Humanitas).

HEIDEGGER, Martin; KLEININGER Thomas & LIICEANU, Gabriel (1988): Repere pe drumul gândirii. – Bukarest: Editura Politică.

HEIDEGGER, Martin; TILINCA, Dorin & ARMAN, Mircea (1994): Ființă și Timp. – Bukarest: Jurnalul Literar.

HEIDEGGER, Martin; TILINCA, Dorin & ARMAN, Mircea (1995): Timp și Ființă. – Bukarest: Editura Jurnalul Literar.

HEIDEGGER, Martin; TILINCA, Dorin (2001): Fiire și Timp. Mit einem Vorwort von Mircea ARMAN. – Cluj-Napoca: Grinta.

HEIDEGGER, Martin; CIOABĂ & LIICEANU, Gabriel (2003): Ființă și timp. – Bukarest: Humanitas.

KLEININGER, Thomas & LIICEANU, Gabriel (2001): „Heideggers Rezeption in Rumänien (1931-1987)“, Studia Phaenomenologica,
Nr. 1-2, 25-43.

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